Flüchtlingskinder 2006

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Nachfolgender Artikel von Jens Rademacher erschien am 23. Juli 2006 in der Wochenzeitschrift „Blickpunkt“:

„Ich müsste meine Welt verlassen
Integriert, talentiert, geduldet:
Was Sendenhorster Flüchtlingskinder aus ihrem Leben machen dürfen

Sie alle kamen vor Jahren mit ihren Familien nach Sendenhorst - aus Jordanien, dem Kosovo oder Tschetschenien. Heute bringen die begabten Jugendlichen ihre Talente ein, wo sie können - soweit sie dürfen. Denn drei von ihnen leben mit der Angst vor der Abschiebung.

Ohne Ivana würde den Sendenhorster Karnevalisten die Trainerin ihrer Tanzgarde fehlen. Ohne Orhan hätte die örtliche Sportgemeinschaft einen talentierten Fußballer und neuerdings auch Co-Trainer weniger. Und ohne Baraha müsste die Realschule St. Martin auf eine sehr begabte Schülerin verzichten, die sogar schon einen Vorlesewettbewerb gewonnen hat. Trotzdem besteht die Gefahr, dass Sendenhorst ohne sie und ihre Talente auskommen muss. Von Integrationsproblemen -Ivana kommt ursprünglich aus Kroatien, Orhan aus dem Kosovo und Baraha aus Jordanien - kann keine Rede sein. Das Problem liegt ganz woanders: Die Kinder aus Flüchtlingsfamilien leben seit vielen Jahren in der Stadt, sprechen Deutsch, sind hungrig, sich einzubringen - und haben mit ihren Familien doch nur den Status der Duldung.. Damit droht die Abschiebung. Von so genannten Kettenduldungen sprechen Ingrid Demming und Theodor Lohölter vom Deutsch-Ausländischen Freundeskreis, einer örtlichen Flüchtlingshilfeorganisation.
Da ist Ivana: Die 20-Jährige kam vor 15 Jahren mit ihren Eltern aus Kroatien, auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg, wie sie erzählt. „Man hat sich sein Leben hier aufgebaut", sagt sie, „ist zur Schule gegangen. Man ist praktisch Deutsche." Über Freunde sei sie zur Tanzgarde der Karnevalsgesellschaft „Schön war's" gekommen - tanzen, das ist ihr Ding. Inzwischen kann sie ihr Talent weitergeben, denn sie trainiert den närrischen Nachwuchs der Vier-Türme-Stadt im Tanzen. Gibt es ein besseres Beispiel für gelungene Integration? Wie ein dunkler Schatten liegt aber die mögliche Abschiebung auf Ivanas Leben. „Zurzeit", sagt sie, „wird die Frist immer nur für zwei Wochen verlängert." Da habe sie es stets mit der Angst zu tun. „Ich will nicht zurück. Ich bin da nichts." Eine Berufsausbildung ist mit dem Status der Duldung nur
unter Schwierigkeiten möglich - wenn überhaupt. Seit zwei Jahren hängt Ivana nach eigenen Angaben inzwischen in der Falle. Nach einem Praktikum in einem Friseursalon würde sie dort gerne eine Ausbildung beginnen. Doch das sei nicht genehmigt worden.
Da ist Baraha: Die gebürtige Jordanierin spielt als Klassen- und stellvertretende Schülersprecherin durchaus eine Rolle im Leben an der Realschule. Als sie vier Jahre alt war, kam sie mit ihrer Familie hierher, lernte schnell Deutsch und hat ein Faible für Sprachen. „Arabisch zu lesen habe ich mir selbst beigebracht", sagt sie. Englisch und Französisch lernte sie in der Schule, demnächst soll noch Spanisch dazukommen. Ihr Ziel sei es jetzt erst einmal, die gymnasiale Oberstufe zu besuchen. Die Noten sprechen für sich. Fast scheint ihr der hervorragende Schnitt ein wenig peinlich. Wenn nur das Thema Duldung nicht wäre, das auch Barahas Zukunftspläne durchkreuzen könnte. „Zur Zeit wird immer für einen Monat verlängert."
Da ist Orhan: Es war im Jahr 1991, als seine Eltern mit ihm aus dem Kosovo nach Sen-denhorst kamen. Sie gehören der Volksgruppe der Roma an. Heute, 15 Jahre später, ist Orhan 18, hat sich mit Haut und Haaren dem Fußball verschrieben. Bis vor kurzem habe er in der ersten A-Jugend-Mannschaft bei der SG gespielt (Mittelfeld und Sturm), in der kommenden Saison werde er wohl in der zweiten Senioren-Mannschaft mitmischen. Und, berichtet er mit einem Anflug von Stolz, er werde mit einem Kollegen die zweite C-Jugend trainieren. Das macht er in seiner Freizeit. Von 4 bis 10 Uhr morgens und dann noch einmal nachmittags hilft er seinen Eltern bei der Arbeit, die bei einer Reinigungsfirma beschäftigt sind. Ausbildung? Wie Ivana liebäugelt er mit dem Friseurberuf, aber: „Viele Arbeitgeber wollen es nicht, wenn die Duldung alle drei Monate verlängert werden muss." Also weiter putzen. „Wir hoffen schon seit zwei Jahren auf eine Altfallregelung für langjährig Geduldete", sagt Theodor Lohölter.
Das Leben im Schwebezustand über Jahre hinweg, die fehlenden Perspektiven zehren bei allen an den Nerven. Ingrid Demming und Theodor Lohölter fordern „endlich Entscheidungen" der Behörden. „Denn da sind diese Schicksale", sagt Demming. Wenn die Jugendlichen könnten, wie sie wollten ...
Mehr Möglichkeiten haben zum Glück Dzonatan und Diana. Die beiden 15-Jährigen - sie kommt aus Tschetschenien, seine Familie aus Serbien - haben eine Aufenthaltserlaubnis. Dzonatan, den Orhan als einen „wunderbaren Fußballer" vorstellt, ist ebenfalls ein Talent am Ball. „Dadurch habe ich viele Freunde gefunden", erzählt er. Dzonatan wirkt ruhig und besonnen - und hat bislang offenbar auch keine übereilten Entscheidungen getroffen: Seine Mitgliedschaft in der Fußball-Kreisauswahl gab er auf, um weiter genug Zeit für die Ahlener Fritz-Winter-Gesamtschule zu haben. Diana, die schon nach anderthalb Jahren Grundschule in Deutschland auf die Realschule wechselte, ist gerade dabei, sich zu entscheiden: Soll sie die Ausbildung als Reno-Gehilfin anfangen oder doch als Au-pair-Mädchen ins Ausland gehen? „Ich will eigentlich lieber was von der Welt sehen", sagt sie. Allen gemeinsam ist, dass sie in Deutschland aufgewachsen und inzwischen verwurzelt sind. Baraha: „Ich kenne meine Freundinnen jetzt seit zehn Jahren. Wenn ich nach Jordanien müsste, müsste ich meine Welt verlassen."

Info:
Rund 180.000 geduldete Flüchtlinge leben nach Angaben des Statistischen Bundesamts in Deutschland. Viele von ihnen sind abgelehnte Asylbewerber, darunter zahlreiche Jugendliche und hier geborene Kinder. Duldung bedeutet, dass ihre Abschiebung - also die Rückführung in ihr Herkunftsland - vorerst nicht möglich ist, etwa weil ein Pass fehlt oder weil ihnen im Herkunftsland Gefahren drohen. Duldungen werden befristet ausgesprochen, oft für drei bis sechs Monate, dann muss die Duldung verlängert werden. Zuständig dafür sind die örtlichen Ausländerbehörden. Um zu arbeiten oder eine Ausbildung zu beginnen, brauchen Geduldete eine Erlaubnis. Dafür wird geprüft, ob es keine deutschen Bewerber oder Bewerber aus dem EU-Ausland gibt. Außerdem besteht Residenzpflicht, das heißt, sie dürfen den Landkreis oder den Regierungsbezirk ohne Genehmigung nicht verlassen. (rad)